Neuordnung

Am Morgen eines Jahres halten wir inne, schauen zurück und hoffen nach vorn. Selten in den vergangenen Jahrzehnten mag der Rückblick so schmerzhaft und die Vorausschau so vage gewesen sein. Das gilt besonders für die von Krieg, von Tod und Verwundung sowie von Entbehrung des Notwendigsten getroffenen Menschen. Es gilt gleichzeitig jedoch auch für uns, deren Probleme oberflächlich mit den Begriffen "Preiserhöhungen" und "Energieknappheit" umrissen sind. Das vergangene Jahr hat an zahlreichen Stellen sichtbar werden lassen, auf welch sandigem Untergrund der Wohlstand der sogenannten westlichen Zivilisation ruht.

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Überall ist Krise, so scheint es derzeit: Wo sich Corona bisher kaum ausbreiten konnte, geschieht das augenscheinlich in diesen Tagen und Wochen, namentlich in China. Wo Corona bereits "durch" ist, leiden die Menschen unter den Folgen der Pandemiebekämpfung, wie z.B. der mangelnden Immunisierung gegen andere Viruserkrankungen. Russlands Krieg gegen die Ukraine hält Europa und die Welt weiter unter Anspannung. Die Nebenwirkungen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Inflation drohen die Weltwirtschaft in die Knie zu zwingen. Und über allem steht die Klimakrise, welche in ihren erwartbaren Auswirkungen nicht zu gering geschätzt werden darf.

Für die Kapitalmärkte war 2023 zweifellos ein annus horribilis. Hauptbelastungsfaktor war die Risikoaversion vor dem Hintergrund des Krieges und der Inflationsentwicklung. Von Rohstoffen abgesehen gerieten alle Anlageklassen unter Druck. Nicht nur die vermeintlich am stärksten risikobehaftete Anlageklasse "Aktie" verlor an Boden. Vielmehr haben die Zinserhöhungen der Notenbanken zu einem massiven Anstieg der Anleiherenditen geführt. Da zwischen Renditen und Kursen ein inverser Zusammenhang besteht, sind die Anleihekurse im Gleichklang mit den steigenden Renditen deutlich gefallen. Europäische Staatsanleihen mit Laufzeiten zwischen 5-7 Jahren wiesen die größten Kurs­verluste seit dem Beginn der Währungs­union auf. Durch den Gleichlauf von Aktien und Anleihen (beide Anlageklassen verloren satt zweistellig) war im abgelaufenen Jahr kein positiver Diversi­fikations­­effekt zu erzielen. Ganz entscheidend für 2023 wird sein, ob es den Noten­banken gelingt, die Inflation einzudämmen, ohne eine tiefe wirtschaftliche Rezes­sion aus­zulösen. Die Mehrheit der Kapital­markt­teilnehmer geht derzeit vom Gelingen dieser Operation aus.

DER ZINS BLEIBT DAS MAß DER DINGE

2022 haben die Notenbanken in bisher nicht gekannter Geschwindigkeit die Zinsen erhöht und zugleich den Märkten Liquidität entzogen, vornehmlich in den USA, Kanada, England und Australien. Zurückhaltender zeigte sich die EZB, steht sie doch vor der Herausforderung, sowohl die Inflation wirksam zu bekämpfen als auch zugleich die Finanzierbarkeit der europäischen Staatsdefizite nicht in Gefahr zu bringen. In der Vorweihnachtswoche sorgte zudem die japanische Nationalbank mit einer völlig unerwarteten Ausweitung des Zinskorridors für Irritationen. Die Eindämmung der Inflation genießt ganz offensichtlich allerhöchste Aufmerksamkeit der internationalen Währungshüter. Es ist nicht auszuschließen, dass sie in ihrem Eifer über das Ziel hinausschießen, denn insbesondere die amerikanische Notenbank steckt in einer Glaubwürdigkeitsfalle: FED-Präsident Jerome Powell hatte schon 2018 die Zinsen angehoben, weil man ein Heißlaufen der Wirtschaft befürchtete. Das Bremsmanöver stellte sich als deutlich überdosiert heraus, denn tatsächlich hatte die Konjunktur sich bereits abzukühlen begonnen und es zeichnete sich mehr als eine Halbierung des Wachstums ab. Die FED sah sich genötigt, eine 180-Grad-Wende zu vollziehen, die Zinsen wieder zu senken und die Kapitalmärkte mit Liquidität zu unterfüttern. Nun gehört zur Ironie der Geschichte, dass eben diese damalige Wende mit das Fundament für die heute zu bekämpfende Inflation gelegt haben dürfte. Vor dem Hintergrund der damaligen schweren Entscheidungsirrtümer erscheint es umso herausfordernder, in der aktuellen Situation mit geradem Rücken auch unpopuläre Maßnahmen standhaft zu verteidigen, ohne erneut Vertrauen zu verspielen. Die derzeitige verbale Begleitung der Geldpolitik erlaubt jedenfalls so schnell keine Umkehr. Denn nach sieben Zinsanhebungen innerhalb von neun Monaten lässt die FED-Führung weiter verlauten, man sei "von einem Sieg weit entfernt", habe "noch viel zu tun" und erwarte "einen finalen Leitzins, der höher liegen wird als derzeit vom Markt interpretiert". Dabei sind die Argumente der Kritiker, die Anzeichen einer wirtschaftlichen Abkühlung seien unübersehbar, kaum von der Hand zu weisen. Die Volkswirte erwarten für das begonnene Jahr im Konsens ein US-Wachstum von 0,4 %, was auf der Ziellinie knapp das soft landing ergäbe, welches die Notenbank anpeilt. Viele sehen die Antriebskräfte der Wirtschaft allerdings schon jetzt als so stark gedrosselt an, dass die Konjunktur möglicherweise schon vor der ebenen Landebahn aufsetzt.

WAS LEHRT DIE GESCHICHTE?

Derzeit beobachten wir in den USA, wie im Übrigen auch im Euro-Raum, eine inverse Zinsstruktur: Die Renditen der kurz laufenden Anleihen (2 Jahre) sind höher, als die der länger laufenden (10 Jahre). Diese Situation kommt zustande, wenn die Marktteilnehmer vermuten, dass die Renditen bereits auf kurze Sicht deutlich zurückgehen, was sich in der Regel kausal nur dann ergibt, wenn die Konjunktur zu schwächeln beginnt. In der Vergangenheit behielt "der Markt" in der überwiegenden Anzahl der Situationen mit inverser Zinsstruktur mit seiner Erwartung Recht und den Zinsinversionen in den USA folgten – häufig mit etwa einjähriger Verzögerung – weltweit rezessive Phasen. Dies obwohl die FED aus den Fehlern der 80er Jahre gelernt hatte und jedes Mal bereits wieder die Zinsen senkte, bevor eine Rezession messbar war.

Derzeit ist der Renditeabstand zwischen Lang und Kurz so groß, wie in den letzten 40 Jahren nicht; die Markterwartung wird also deutlich formuliert. Das Einschwenken in den wirtschaftlichen Rückwärtsgang ist insofern längst eingepreist und würde für die Finanzmarktakteure keine Überraschung auslösen. Die offene Frage ist lediglich, ob es zum wünschenswerten soft landing kommt oder ein größerer Konjunktureinbruch zu befürchten ist. Das dürfte entscheidend von der Geld- und Zinspolitik der Notenbank abhängen, die derzeit allerdings weiterhin mit Kraft das Bremspedal bedient. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die FED meint, "es wird wohl eine längere Phase verlangsamten Wachstums und höherer Arbeitslosigkeit brauchen, um die Inflation zu senken". Bekanntermaßen ist die Arbeitslosigkeit ein Spätindikator, auf den zu warten eine deutlich zu lange Bremsspur nach sich ziehen könnte. Aufgrund des allerorten zu beklagenden Mangels an Fachkräften und vor dem demografischen Hintergrund könnte sich zudem das Phänomen einer Rezession unter Vollbeschäftigung etablieren: Die Betriebe verknappen Produkt- und Dienstleistungsangebote, weil ihnen die Fachkräfte fehlen, während sich Ersatz-Investitionen in Hard- und Software vor dem Hintergrund engerer Finanzierungsbedingungen schwieriger gestalten. In diesem Szenario würden die Löhne weiter anziehen, das Preisniveau möglicherweise ebenfalls. Verschlechterte die Notenbank nun also fortgesetzt die Finanzierungsbedingungen, um der Inflation Herr zu werden, gerieten mehr und mehr Geschäftsmodelle in die roten Zahlen und es könnte ein Kipp-Punkt ausgelöst werden, an dem es dann doch schlagartig zu zahlreichen Pleiten und großen Entlassungswellen käme.

PERSPEKTIVEN ZUR INFLATION

Bemerkenswerterweise hat die Inflation auf beiden Seiten des Atlantiks ganz unterschiedliche Ursachen, weshalb sich berechtigt auch die Bekämpfungskonzepte unterscheiden. Auf dem amerikanischen Kontinent besteht kein Mangel an Energierohstoffen und der Ölpreis liegt derzeit lediglich 10 % über dem Durchschnitt des Jahres 2021. Die Inflationsursachen dort liegen im Wesentlichen in der Auflösung des Einkommensüberhangs aus den Coronahilfen (die Schecks des Staates verhalfen vielen Haushalten zu höheren Einnahmen als vor Corona), in der Geldpolitik der Notenbank und im letztjährig beschlossenen Konjunkturpaket mit einem Gesamtvolumen von 2 Billionen USD. Ein hausgemachtes Problem, welches mit konventionellem Instrumentarium in den Griff zu bekommen sein müsste. Währenddessen steht die EZB hauptsächlich vor dem Problem der hohen Energiekosten in Europa, die sich aufgrund des Gasimportstopps aus Russland ergeben haben. Derzeit liegt der Gaspreis hier bei mehr als dem Doppelten des 2021er Durchschnitts, obwohl die Preise sich gegenüber der Spitze bereits halbiert haben. So erreichte die Inflation im Euro-Raum mit 11,1 % neue Nachkriegshöchststände, während sie in den USA schon zum fünften Mal rückläufig ist und momentan bei 7,1 % liegt. Die EZB ist nur Statist in diesem Schauspiel und vollständig ohne Einflussmöglichkeit auf die Hauptursache der Preissteigerungen im Euroraum. Neutralisiert man die Inflation um die Energiepreise und Nahrungsmittel (so genannte Kerninflation), so ergibt sich in Europa eine deutlich geringere Rate als in den USA. Übermäßig zu bremsen würde die Wirtschaft folglich abwürgen, hätte aber an der Ursache rein gar nichts bewirkt. Die EZB müsste darum vielmehr durch die Inflation "hindurchsehen" und auf den Basiseffekt hoffen. Denn die zurückliegenden Preisanhebungen wachsen aus dem 12-Monatsvergleich heraus und so ermäßigen sich die Preissteigerungsraten nahezu "zwangsläufig" wieder. Allerdings hat die Zentralbank berechtigte Sorgen, dass sich das Narrativ "alles wird permanent teurer" festsetzt, was wiederum eine Lohn-Preis-Spirale in Gang setzen könnte, deren wirtschaftliche Kosten wesentlich höher wären, als jetzt deutliche Signale der Inflationsbekämpfung zu senden. Global betrachtet dürfte der Höhepunkt der Preisentwicklung bereits überschritten sein. Es bestehen allerdings Zweifel, ob die offizielle Zielperspektive der Notenbanken von "um 2 %" wieder erreicht werden kann. Mehrere Überlegungen begründen diese Skepsis:

  • Die demografische Entwicklung in den Industrieländern – auch in China – sorgt dafür, dass der Fachkräftemangel kein vorübergehendes Phänomen ist. Die Preissetzungsmacht für den Faktor Arbeit wandert mehr und mehr zu den qualifiziert Beschäftigten.
  • Die Kostenvorteile einer globalen Arbeitsteilung schwinden im Gefolge derzeitiger Deglobalisierungstendenzen. "Buy local" ist halt grundsätzlich teurer, als dort zu kaufen bzw. zu produzieren, wo die Gestehungskosten am geringsten sind.
  • Der Klimaschutz – derzeit gibt es kaum eine Regierung, die seine Notwendigkeit bestreitet – stellt ein riesiges Investitionsprogramm dar, welches Kapazitäten und Ressourcen bindet. Das hält die Preise auf allen Ebenen hoch.
  • Der grüne Wandel wird ein Rennen auf die knappen Industrierohstoffe auslösen, der Bedarf dürfte sich in diesem Jahrzehnt vervielfachen. Allein der Verbrauch an Energierohstoffen verschlingt bereits heute 13 % des Weltwirtschaftsprodukts. Ein historischer Spitzenwert, der nicht zuerst dem hohem Preis geschuldet ist, sondern dem rekordhohen Verbrauch insbesondere fossiler Brennstoffe.

Insofern stehen die Vorzeichen global ohnehin auf Inflation. Die Notenbanken mögen sich darum häufiger als in den zurückliegenden dreißig Jahren zum Eingreifen gezwungen sehen, um sie im Zaum zu halten. Dadurch könnten sich Wirtschaftszyklen wieder verkürzen und die Finanzierungs- und Absatzbedingungen für Unternehmen schlechter planbar werden. Dies wiederum ließ die Märkte für risiko- bzw. schwankungsreichere Investments eine höhere Rendite einfordern, als dies unter besser kalkulierbaren Umgebungsbedingungen der Fall wäre. Meint: Die Bewertungen könnten sich aktuell noch als etwas zu hoch erweisen.

DER ARBEITSMARKT BIETET DER KONJUNKTUR UNTERSTÜTZUNG

Erstaunlicherweise haben sich trotz der unübersichtlichen Lage die konjunkturellen Erwartungen zum Ende des Jahres gegenüber dem Spätsommer bereits wieder etwas gebessert. Ein wesentlicher Stimmungsaufheller sind regelmäßig die Daten zum Arbeitsmarkt, der einfach nicht kleinzukriegen zu sein scheint. Sollte sich im nächsten Jahr dennoch eine konjunkturelle Delle herausbilden, so könnte es die allererste Rezession sein, während der Vollbeschäftigung herrscht. Bekanntermaßen spielt gerade der Konsum in den USA eine herausragende Rolle für die Konjunktur. Um ihn macht man sich derzeit die geringsten Sorgen. Der black friday brachte Rekordumsätze und das Verbrauchervertrauen legte kurz vor Weihnachten noch einmal über Erwarten zu. Auch der Arbeitsmarkt bleibt robust. In diesem Zusammenhang sind gute Nachrichten für Wirtschaft, Arbeitnehmer und Verbraucher allerdings zugleich schlechte Nachrichten für Anleger, denn sie enttäuschen deren Hoffnungen auf eine rasche Fortsetzung der Inflationsabschwächung und eine weniger restriktive Politik der FED. Alles in allem wird für 2023 eine spürbare Rezession nicht mehr wirklich erwartet. Nach Konsens-Schätzungen sei für Amerika und Euroland eine mehr oder weniger leicht gerötete Null zu erwarten und das gesamtglobale Wachstum wird bei gut einem Prozent gesehen. Mit einem Blick auf die Details klingt das allerdings wie Pfeifen im Walde, denn die Zinsanhebungen der letzten Monate werden erst 2023 ihre konjunkturelle Wirkung entfalten, die Verbraucher müssen reale Einkommensverluste hinnehmen und die konsumptiven Aufholeffekte nach der Corona-Pandemie laufen aus.

WIE GEHT ES DEN UNTERNEHMEN?

Auf die Umsatz- und vor allem die Ertragsrech-nung der Unternehmen schlagen Lieferengpässe, krankheitsbedingte Ausfälle und Energiekosten bisher wenig durch. Ganz im Gegenteil, gerade europäische Unternehmen dürften sogar profitiert haben und für 2022 Rekordergebnisse abliefern. Die Gewinnschätzungen für das abgelaufene Jahr wurden stetig nach oben angepasst. Die exportorientierte Industrie hat von einem starken USD profitiert und konnte Währungsgewinne einstreichen. Hersteller langlebiger Konsumgüter (Autos, Haushaltsgeräte, Möbel) haben angesichts der Lieferengpässe ihren Absatz auf das höherpreisige Segment konzentriert, wo die Margen am größten ausfallen.

Die Unternehmen in Amerika spüren den Gegenwind dagegen bereits heftiger, denn die Finanzierungskonditionen sind dort nach den zahlreichen Zinsanhebungen schlechter als in Europa. Zudem sind amerikanische Waren aufgrund des starken US-Dollars im Ausland teuer. Diese Entwicklung könnte mit weiter steigenden Zinsen allerdings auch auf hiesige Unternehmen zukommen und mit einiger Wahrscheinlichkeit werden Währungsgewinne und Margenausweitungen eher entfallen. Weltweit dürften angesichts verlangsamter Wirtschaft und sich weiter verteuernder Kapitalkosten die Aussichten für die Unternehmen weniger günstig sein. Diese Erwartung spiegeln die derzeitigen Gewinnschätzungen der Analysten für global operierende Unternehmen bereits in Andeutungen wider. So sollen amerikanische Unternehmen nach einem geschätzten Plus für 2023 von 10 % nun lediglich noch 5 % mehr erwirtschaften als 2022. Europäischen Unternehmen wird immerhin noch eine schwarze Null zugetraut. In den Schätzungen hallen allerdings die positiven Überraschungen aus dem letzten Jahr nach; sie könnten sich deshalb noch als zu optimistisch erweisen.

WANN DREHT DER MARKT?

Wie immer stellt sich die Frage, welche Perspektiven bereits in der zurückliegenden Baisse eskomptiert sind und welche Entwicklungen heute möglicherweise noch zu wenig berücksichtigt werden. Was die Märkte wiederkehrend irritiert, ist der Stoizismus, mit der die FED ihre Mitte letzten Jahres gesetzte Marschrichtung verfolgt. Wenngleich sinkende Frachtkosten, rückläufige Einkaufsmanagerindizes und inverse Zinsstrukturen ablesen lassen, dass sowohl konjunkturelle Dynamik als auch Inflation den Wendepunkt gesehen haben sollten, wird verbal und real eine Politik der Verschlechterung von Finanzierungskonditionen fortgesetzt. Das erklärt die Stimmungsschwankungen der Märkte in Wochen, wo eigentlich positive Daten gemeldet werden. So wurde in den Tagen vor Weihnachten in den USA ein überraschend großes Verbrauchervertrauen gemessen (wenngleich noch deutlich unter den Raten während Corona). Die Aktienkurse sprangen daraufhin sehr deutlich an, gaben aber am Folgetag die Gewinne vollständig wieder ab. Die Euphorie der Marktteilnehmer über die sich möglicherweise stabiler als erwartet entwickelnde Konjunktur war der Befürchtung gewichen, dass die Notenbank nun umso länger und/oder entschiedener auf die Bremse treten könnte.

Die Kursrückgänge der letzten Monate haben dazu beigetragen, Überbewertungen abzubauen. In den USA haben sich Investoren vor allem von den Treibern des digitalen Zeitalters getrennt. So verbuchten die Technologiegiganten heftige Kurseinbrüche. Während die Aktien von Apple und Microsoft jeweils ca. 30 % verloren, traf es Amazon (- 50 %) und Alphabet (- 40 %) noch härter. Gemessen an Kurs-Umsatz- oder Kurs-Gewinn-Verhältnissen sind diese Unternehmen so günstig wie seit vielen Jahren nicht mehr. Dies könnte die Erwartung rechtfertigen, die Märkte hätten ihre Tiefs gesehen. Wir agieren derzeit allerdings noch vorsichtig. Nicht nur, weil die Projektionen der Analysten trotz konjunktureller Blutarmut derzeit (noch?) keine Gewinnrückgänge für 2023 vorsehen, was durchaus noch Überraschungspotential in sich trägt. Darüber hinaus wäre eine wünschenswerte Voraussetzung für einen kraftvollen Umschwung des Marktes eine gewisse Abstinenz und Risikoscheu der Anleger, die wir so derzeit nicht sehen, denn richtig schlecht ist die Stimmung an den Börsen nicht: Weltweit haben Aktienfonds in den vergangenen 12 Monaten an Volumen hinzugewonnen und die Fondsmanager halten Liquidität ungefähr in der Mitte der üblichen Bandbreite. Die Kurs-Gewinn-Verhältnisse haben im Rückblick auf 2022 nicht annähernd die Tiefs aus vorausgegangenen Baissen erreicht, eine so zu bezeichnende Kapitulation mit extremem Volatilitätsanstieg und hohen Umsätzen blieb bisher aus. Der Markt zeigt trotz über ein Jahr rückläufiger Kurse einen permanent abnehmenden Stresslevel und scheint damit anfällig für Überraschungen. Diese würden bspw. Gewinnerwartungen, die einen Einbruch projizieren, liefern. Aktien wären im Vergleich zu inzwischen wieder verzinsten Anleihen dann schnell zu teuer. Ein solches Szenario wäre denkbar, wenn sich in den ersten Monaten dieses Jahres – wie von der US-Notenbank augenschein­lich anvisiert – tatsächlich der Eintritt einer Rezession abzeichnete. Im Zuge dessen wären dann erste Zinssenkungen zu erwarten, die Inversion der Zinskurve würde sich auflösen und der Weg für einen Durchstart der Märkte wäre frei.

WAS KÖNNTE SCHIEF GEHEN?

Die Welt ist fragil, was allerdings zu einem großen Teil in den Börsenkursen berücksichtigt sein dürfte. Auch in 2023 werden die Dinge wohl nicht einfacher, in Summe haben wir aber den Optimismus, dass sie besser werden. Allerdings, diese Grundannahmen ließen sich durchaus erschüttern:

  • Chinas neue "Full-Covid"-Strategie lässt sich in ihren Auswirkungen nicht gut greifen. Aufgrund der niedrigen Impfquote mit zudem schlechtem Impfserum wird geschätzt, dass sich in kurzer Zeit jeder zweite Chinese mit der Omikron-Variante anstecken dürfte. Die Krankenhäuser wie auch die Krematorien ächzen bereits jetzt. Schlechtestenfalls wird es einen neuen flächendeckenden Lockdown geben und China auf längere Sicht als Wirtschaftsfaktor unterrepräsentiert bleiben. Im besseren Fall entfacht der Konsum seinen Nachholbedarf, was über die Rohstoffnachfrage allerdings zu einem Wiederanstieg der globalen Inflation beitragen könnte.
  • Die Versorgung Europas mit Gas bleibt angespannt und das Verhältnis USA : Saudi Arabien lastet auf dem Ölmarkt. Für beide Energieträger könnte sich aus verschiedensten Gründen eine weitere Einschränkung der Verfügbarkeit ergeben, mit den bekannten Auswirkungen auf die Inflation und den Mangel an industriellen Vorprodukten.
  • Im Kriegsgebiet am Rande Osteuropas stehen die Zeichen auf Eskalation. Russland interpretiert die beabsichtigte Lieferung von amerikanischen Patriots an die Ukraine als direkten Eintritt Amerikas in den Krieg. Diese Drohung war absehbar; sie ist nach den bisherigen Erfahrungen mit Putin keinesfalls leichtfertig zu handhaben.
  • Die geplanten Klimaschutzinvestitionen bedürfen eines Vielfachen dessen, was heute an Lithium, Kobalt, Gold, Platin und seltenen Erden gefördert und veredelt wird. Seltene Erden stecken heute in allem was blinkt, dreht oder piept. Nichts würde ohne sie funktionieren. China verfügt mit Abstand über die meisten Vorkommen seltener Erden und produziert bzw. veredelt über 70 % des weltweiten Bedarfs. Es fällt nicht schwer sich auszumalen, dass China – aus welchem Anlass auch immer – diese Abhängigkeit der Welt ausnutzen könnte, um seinen geopolitischen Interessen Nachdruck zu verleihen. Die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen wären aus heutiger Sicht kaum zu ermessen.

POSITIVE ÜBERRASCHUNGEN?

Bei einem Geheimtreffen erringen Antony Blinken und Sergej Lawrow in Anerkennung der gefährlichen Zuspitzung des Kriegs und des von ihm ausgehenden globalen Vernichtungspotentials eine Strategie, die den Konflikt in der Ukraine zu beenden ermöglicht. – Das wäre gewiss die bestdenkbarste Überraschung für 2023. Sie hätte die vermutlich weitreichendsten Auswirkungen auf die globale Entwicklung, weil mit dem Krieg erdenklich viele Schlüsselfaktoren verknüpft sind. Aber auch abseits dieser wünschbaren Entwicklung mag einiges besser kommen, als heute noch zu befürchten. Schlüsselfaktoren dürften auch im begonnenen Jahr Inflation und Zinsen bleiben, hier erwarten wir eine Richtungsumkehr. Der Gegenwind des Jahres 2022 könnte in Rückenwind für das begonnene Jahr umschlagen. In Summe bleiben die Rahmenbedingungen jedoch wohl angespannt, denn eine veränderte Weltordnung, der Wettlauf um knappe Human- und Rohstoffressourcen, die Klimaveränderung und der wiederentdeckte Preis des Geldes bilden permanente Herausforderungen. Diese stellen aber zugleich das Ertüchtigungsprogramm für wirtschaftliche und soziale Agilität dar. Denn die aktuellen Fragestellungen streben nach intelligenten Antworten, welche wiederum Chancen für zahlreiche Branchen und Märkte bereithalten. Wir suchen weiterhin nach Investitionen in (poten­tielle) innovative Marktführer mit Preissetzungsmacht und stabilen Ertragsaussichten. Diese existieren weiterhin, man kann sie zu deutlich günstigeren Preisen erwerben, als noch vor ein oder zwei Jahren. Aus diesem Grund raten wir fortgesetzt dazu, an einmal entschiedenen Anlagestrategien festzuhalten, auch wenn die zwischenzeitliche Betrachtung von Kursen und Performance ernüchternd ausfällt. Wir sind zuversichtlich, dass freie Mittel in diesem Jahr mit guten Renditeperspektiven investiert werden können.

Bielefeld, den 3. Januar 2023

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