Neue Realitäten
Vor einem halben Jahr überschrieben wir unseren Bericht mit dem Titel "Die Welt unter Anspannung", was ursprünglich nicht als Dauer-Betitelung verstanden werden wollte. Aber bedauerlicherweise eskalieren alle zurückliegend besprochenen Themen weiter und neue Schauplätze sind hinzugekommen. Außerdem werden nun auch über Jahrzehnte gewachsene Bündnisse konfrontativ infrage gestellt. Der linke Sessel im Oval Office hat sich als Feuerstuhl etabliert und der "Liberation Day" ließ den Welthandel im Zollkorsett der USA fast erstarren. Das Gute am Schlechten ist eine sich abzeichnende Renaissance Europas und der frische Wind aus Deutschland und Großbritannien.
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Im Rahmen unseres vorangegangenen Kapitalmarktberichts hatten wir uns in vielem getäuscht – vor allem in Donald Trump. Es stellt sich einigermaßen herausfordernd dar, die Zeit seit seinem Amtsantritt zu bewerten, die zahlreichen Initiativen der US-Regierung im globalen Kontext einzuordnen, überhaupt eine Ordnung und Zielgerichtetheit in allem zu identifizieren, das verbale Dauerfeuer auszublenden und die wesentlichen Aspekte herauszuarbeiten, um daraus sinnvolle Konsequenzen für die Kapitalanlage abzuleiten. Trumps Politik des Alles oder Nichts, des heute so und morgen so, des friss oder stirb, des Rouge ou Noir vergrößert den Zwiespalt im eigenen Land und treibt einen Keil zwischen den USA und dem überwiegenden Rest der Welt. Um Amerika wieder groß zu machen, genügt es nicht, eine dementsprechend beschriftete rote Kappe aufzusetzen, wenn gleichzeitig über Jahrzehnte gereifte internationale Beziehungen in einem großen Wurf weggekegelt werden. In nur wenigen Monaten ist extrem viel Vertrauen zersplittert. Amerika schließt von innen ab, so hat es den Anschein. Es gerät in Gefahr, wirtschaftlich und politisch massiv an Bedeutung einzubüßen, worüber auch militärische Kraftdemonstrationen nicht hinwegtäuschen.
Politik bestimmt die Börse
Eine Börsenregel lautet, politische Börsen hätten kurze Beine. Das stimmt aus bisheriger Erfahrung hundertprozentig. Allerdings könnten wir es aktuell mit einem vielschichtigen Paradigmenwechsel zu tun bekommen, der uns länger beschäftigt. Über Jahrzehnte gewachsene wirtschaftliche und freundschaftliche Allianzen zerfasern, politische Blöcke verschieben sich in tektonischem Ausmaß, für partnerschaftliche Kooperationen wichtige Werte wie Authentizität, Vertrauen, Verlässlichkeit und Verbundenheit stehen im Sturm. Die den Welthandel jahrzehntelang prägende liberale Wirtschaftsordnung zerfällt entlang geopolitischer Bruchlinien und es droht der Verbleib eines Flickenteppichs bilateraler Absprachen. Etliche Energie wird derzeit darauf verwendet, überlebenswichtige Allianzen zu retten (z.B. die Nato-Mitgliedschaft der USA), neue Realitäten anzuerkennen, Systeme neu zu verankern und Standorte neu zu bestimmen.
Ob wir wollen oder nicht, richtet sich der Fokus immer wieder auf ein bestimmtes Land und auf diese eine bestimmte Person. Auch das ist Teil der neuen Realität, die wir zumindest für die nächsten dreieinhalb Jahre anerkennen und ihr deshalb hier einige Aufmerksamkeit widmen müssen. Die formal starke Position eines amerikanischen Präsidenten und die wirtschaftliche und militärische Macht der USA ermöglichen Donald Trump eine umfassende und vielschichtige Einflussnahme auf globale Abläufe. Diese nutzt er in disruptivem Ausmaß und versucht zugleich, im Inland eine Art Präsidialdiktatur zu errichten. Mit seinem Rückzug aus internationaler Verantwortung und der Absage an jedwede regelbasierte Ordnung hat Trump schlagartig auch ein Vakuum erzeugt. Diese Lücke will geschlossen werden, diplomatisch, wirtschaftlich und möglicherweise militärisch. China rüstet sich seit langem für eine solche Chance und könnte seine Anstrengungen verstärken, Macht und Einfluss auszuweiten. Paradoxerweise hat der MAGA¹-Präsident selbst dafür die Grundlagen geschaffen. Es ist sehr begrüßenswert, dass gleichzeitig eine Art europäischer Frühling anzubrechen scheint, dem auch der Führungswechsel in Deutschland eine angenehme Frische verleiht. Europa hätte eine nicht geringe Chance, in einem weniger US-zentrierten System seine Position global zu stärken. Augenscheinlich traut es sich eine Führungsrolle tatsächlich zu und müsste nun alle Möglichkeiten kreieren und ausschöpfen, um diese auszufüllen.
¹ Make America Great Again
"I love tariffs ..."
Zum Schicksalstag für die Kapitalmärkte wurde der 2. April, der "Liberation Day", an dem Trump ein neues Zollregime verkündete. Die US-Einfuhrzölle sprangen von durchschnittlich 2,5 % auf ein seit 1901 nicht gekanntes Niveau: 28,8 %. Der Vorstoß schien nicht im Mindesten zu Ende bedacht und die Herleitung der einzelnen Aufschläge war so abstrus – im Grunde konnte sich niemand einen Reim darauf machen. Sicher war nur: Zum einen würden die inländischen Verbraucher die Zölle zahlen müssen, womit die Lunte an die Inflation gelegt war.
Zum anderen würden in der entstandenen Ungewissheit Investitionen zurückgehalten – im Inland, im Ausland und von ausländischen Produzenten in den USA. Eine klassische Wachstumsbremse war eingezogen und das Gespenst der Stagflation war wieder geweckt. Die Märkte reagierten mit bis zu zweistelligen Abschlägen innerhalb von wenigen Tagen, allen voran die US-Börsen. Wenige Tage später vollzog Trump eine seiner geübten Volten, weil "die Leute ein bisschen nervös geworden" seien. Das wiederum hatte einen extrem deutlichen Wiederanstieg der Kurse zur Folge. Derzeit gilt nun durchschnittlich ein Einfuhrzoll in Höhe von 14 %, ein noch immer sehr hohes und zuletzt 1939 erreichtes Niveau. Trump verteidigt weiter mit nahezu religiösem Eifer seine Überzeugung, Zölle hätten irgendeinen positiven Effekt auf die Wirtschaft und auf den Staatshaushalt. Das parteiübergreifende Congressional Budget Office errechnet allerdings, dass die Handelsbeschränkungen die Inflation um ca. 0,5 % (110 Mrd. USD) erhöhen und das BIP jährlich schätzungsweise um ca. 0,7 % (200 Mrd. USD) drücken werden. Paradoxerweise hat also der Präsident augenscheinlich einen bedeutenden Gegenimpuls zu seinem MAGA-Ansatz initiiert. Zwar könnten sich die Staatseinnahmen tatsächlich um ca. 160 Mrd. USD erhöhen, stünde dem nicht auf der Ausgabenseite dieses "eine große und wunderbare Gesetz" (OBBBA ²) entgegen, welches jeden Einnahmevorteil konterkariert. Sinnvoller jedenfalls, als es sich potentiell mit rund hundert Handelspartnern zu verscherzen, wäre vermutlich, sich auf die Auseinandersetzung mit den (wenigen) Ländern zu konzentrieren, deren Agieren gegenüber den USA tatsächlich schädlich ist und hierzu Allianzen mit befreundeten Staaten zu schließen. Das zeichnet sich zwar nicht ab, dennoch preisen die Märkte bereits ein, dass es nicht zur Wiederauflage der "Befreiungstags"-Regeln kommen dürfte, sondern die Zölle noch etwas unter das derzeitige Niveau verhandelt werden.
² One big beautiful bill act. (Das Gesetz heißt tatsächlich so.)
"Wave" Haven
Die Tage nach dem 2. April ließen die Volatilität an den Börsen auf ein zuletzt während der Finanz- und der Eurokrise gesehenes Niveau ansteigen (2008 bzw. 2011). Wenn an den Börsen das Wasser überkocht, flüchtet internationales Kapital üblicherweise in US-Dollar und amerikanische Staatsanleihen. Erstmalig seit 1945 geschah dieses Mal das Gegenteil: 20 Tage nach dem L-Day war der USD um über 6 % gefallen, ebenso US-Staatsanleihen. Die Wellen schlugen hoch und ein Euro- oder Yen-Investor versenkte im "Safe Haven" in diesen Tagen 12 %. Die Märkte hatten damit ein unerwartetes Urteil zur finanziellen Resilienz Amerikas gefällt; eine äußerst brisante Situation. Mitte Mai griff mit Moody's die letzte der "Big Three"-Ratingagenturen dieses Urteil auf und aberkannte den USA AAA-Rating. Zur Begründung führte Moody's an, dass die "explodierende" Gesamtverschuldung zu rasant steigenden Zinskosten führe. "Obwohl wir die erheblichen wirtschaftlichen und finanziellen Stärken der USA anerkennen, glauben wir, dass diese den Rückgang der fiskalischen Kennzahlen nicht mehr vollständig ausgleichen können." (Moody´s Presseveröffentlichung vom 16.5.2025)
Das kritisierte Zusammenspiel von Zöllen und Steuergesetzgebung löst Folgen aus, die globale Ausmaße annehmen können. Zum einen wird die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten mit Wachstumsschwächung und Inflationspotential belastet, um netto vielleicht 160 Mrd. USD Einnahmenerhöhung zu erzielen. Zum anderen liegt dem Kongress mit OBBBA ein Steuerpaket vor, das gegenüber bisheriger Budgetplanung zusätzliche jährliche Schulden in Höhe von ca. 300 Mrd. auslöst. Auf diese Weise sollen die von Trump I initiierten Steuervergünstigungen, die in diesem Jahr auslaufen würden, fortgesetzt werden. Damit würde der Finanzminister den Bürgern die Zollbelastung auf Umwegen zurückzahlen – um den Preis eines noch beschleunigten Anstiegs der ohnehin mit kritischer Geschwindigkeit anwachsenden Schulden. Die Steuerentlastung betrifft, wie schon bisher, im Wesentlichen hohe Einkommen, während die Belastung durch Zölle in überproportionaler Härte die ärmere Bevölkerungsschicht trifft. ChatGPT bietet nach 20-sekündiger Recherche das Fazit an, es handele sich bei der Kombination aus Zöllen und OBBBA um einen "in Wahrheit teuer erkauften, ungleich verteilten und intertemporal verschobenen politischen Stimulus".
Das Vertrauen in den Dollar wankt
Mit seinem merkantilistischen Ansatz³ verfolgt Trump ja durchaus das Ziel, den US-Dollar zu schwächen – um dadurch einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ausländischen Anbietern zu erreichen, die Produktion ins Inland zu verlagern und das Handelsbilanzdefizit abzubauen.Dabei wird allerdings die Bedeutung einer stabilen Währung für die Glaubwürdigkeit der Staatsverschuldung vernachlässigt. Auf ihr beruht Amerikas Wirtschaftserfolg der letzten Jahrzehnte. Denn bislang finanzierte das Ausland den amerikanischen Überkonsum und unterstrich durch Reinvestition der Dollar-Erlöse in amerikanische Staatsanleihen das Vertrauen in die Währung und in die Solidität der Staatsfinanzen. Solange der Schuldner den Bogen nicht überspannt und glaubhaft machen kann, dass die Staatsschulden Wachstum erzeugen und gleichzeitig die Inflation niedrig gehalten wird, bleibt das Modell stabil und das Vertrauen erhalten. Diese Voraussetzungen geraten aber derzeit ins Wanken:
• Während die Schuldenaufnahme unter Joe Biden im Rahmen des "Inflation Reduction Act" öffentliche Investitionen vorsah (700 Mrd. USD über 10 Jahre), fokussiert sich der "One Big Beautiful Bill Act" (OBBBA) auf konsumtive Maßnahmen wie die Aufrechterhaltung niedriger Steuern für Einzelpersonen und plant eine Erhöhung der Schulden innerhalb von zehn Jahren um zusätzlich ca. 3 bis 4 Billionen USD. Berechnungen zufolge beliefe sich die Staatsverschuldung 2035 auf 130 % des BIP. Das Haushaltsdefizit würde von jetzt ca. 5 % auf dann über 7 % des BIP steigen. Knapp ein Drittel der Bundeseinnahmen könnte in die Bedienung der Zinsen fließen (heute 18 %)⁴. Die Handlungsfähigkeit des Staates wäre zunehmend vom Zinsniveau abhängig.
• Bis dato waren es die dynamischere Wirtschaft, die politische Sicherheit und die Funktion des USD als Weltreservewährung, die wie selbstverständlich Nachfrage nach Dollaranlagen erzeugten. Nun scheint sich das Wirtschaftswachstum der USA dem von Europa und Japan anzugleichen, politisch treibt Amerika ohne Kompass dahin und die USD-Reserven im Ausland werden permanent reduziert.
• Zugleich bleibt die Inflation oberhalb der Zieldefinition und erhält über die Zölle sowie durch den schwachen USD weiteren Auftrieb. Wenn in dieser Situation wiederholt die Unabhängigkeit des (von Trump eingesetzten) Notenbankpräsidenten infrage gestellt wird, könnte ein Windhauch ausreichen, um einen Crash im US-Anleihemarkt zu provozieren.
Vermutlich hat niemand außer dem Präsidenten selbst erwartet, dass Jerome Powell als Reaktion auf dessen Schulhof-Rüpeleien gehorsam die Zinsen senkt. Dafür besteht sachlich auch keine Veranlassung. Die US-Konjunktur schwächt sich ab, scheint aber nicht in eine Rezession zu münden. Der Arbeitsmarkt ist weiter stark. Dagegen liegt die Inflation weiter über Zielniveau. "Trotz Aussetzen der reziproken Zölle werden die verbliebenen Basiszölle einen inflationären Effekt haben", so Fed-Chef Powell, womit er sagt: Das warten wir erstmal ab! Trump wird kaum ahnen, welchen Vertrauensbonus Amerika noch aus dieser Standhaftigkeit seines Notenbankpräsidenten zieht. Powell ist bis zum 15.5.2026 Präsident der FED und bis Ende 2027 Mitglied im Gouverneursrat. Würde Trump nun vor der Zeit einen Nachfolger ankündigen, dem ganz unkaschiert Marionettenfäden angenäht sind, könnte das den Vertrauensverlust in USD-Anlagen immens beschleunigen.
³ Merkantilismus ist eine Wirtschaftspolitik, die möglichst viele Waren aus dem Land ausführen möchte und möglichst wenig Waren ins Land lässt. (Wikipedia)
⁴ Quellen: Zum Teil CBO (Congressional Budget Office), zum Teil CRFB (Committee for a Responsible Federal Budget, unabhängiger Think Tank)
Das Wachstum verlagert sich
Wirtschaftsforschungsinstitute schätzen für die USA ein sich über 2025/26 abschwächendes Wachstum, ebenso wird für China eine Fortsetzung der Wachstumsverlangsamung (auf noch hohem Niveau) gesehen. Für die EU wird dagegen eine Beschleunigung erwartet, angeführt von Spanien und – in 2026 – von Deutschland. Das gewaltige Investitionsprogramm in Richtung Verteidigung und Infrastruktur sollte zu einem erheblichen Teil europäischen Unternehmen zugute kommen. So ist nachvollziehbar, dass für Deutschland – nach einem bereits guten 1. Quartal (+0,4 % ggü. Vorquartal) – trotz der handelspolitischen Unwägbarkeiten auch für das 2. Quartal gute Indikatoren erwartet werden. Die Effekte sind in der EU noch stärker, dort legte das BIP im 1. Quartal um 0,6 % zu. Der Hauptbelastungsfaktor während des ersten Halbjahres war die ungeklärte Zollfrage. Die Verhandlungen stockten, vielmehr hatte Trump mit der Verdoppelung der Zölle auf Stahl und Aluminium kürzlich noch einmal den Druck erhöht. Nicht zuletzt deshalb dürften die Analysten ihre Gewinnschätzungen auch für den STOXX Europe 600 auf einen Zuwachs um lediglich noch 4 % in 2025 zurückgenommen haben. Trump braucht nun rasch eine Einigung mit dem größten Handelspartner, um einen Deal vorweisen zu können. Darum ist ein baldiges Abkommen zu erwarten, zu welchen Konditionen auch immer. Allein die Beseitigung der Planungsunsicherheit könnte die Konjunktur weiter beleben, wozu auch die kontinuierliche Zinssenkungspolitik der EZB und die steigenden Fiskalausgaben beitragen. Vor diesem Hintergrund hätten die derzeit geringen Gewinnschätzungen für europäische Unternehmen positives Überraschungspotential.
Seit der US-Wahl im November vergangenen Jahres war zu befürchten, dass Zollverhandlungen bevorstehen. Vor dem Hintergrund der Unumstößlichkeit volkswirtschaftlicher Gesetzmäßigkeiten, wonach Einfuhrzölle das initiierende Land mehr schädigen als den Exporteur, haben wir bereits im vorangegangenen Kapitalmarktausblick einen größeren Schwerpunkt auf Europa gelegt. Mit den Zollkapriolen, die sich im April vollzogen haben und deren Ende derzeit nicht recht absehbar ist, hat sich diese Gewichtsverlagerung ausgezahlt. Die europäischen Aktienmärkte haben sich recht früh positiv gegenüber USA abheben können. Zudem sind US-Investments stark betroffen von der ca. 15 %igen Abwertung des USD. Die Euro-Performance von US-Investments ist im 1. Halbjahr oft negativ und die Gesamtdepot-Rendite davon spürbar beeinflusst. Die erratische Wirtschafts- und Handelspolitik der USA verunsichert Unternehmer im In- wie im Ausland gleichermaßen und beeinträchtigt jedwede Investitionsentscheidung, mit inzwischen deutlich spürbaren Auswirkungen auf die Wachstumserwartungen: Wurde im Februar noch ein Wachstumspotential von ca. 2,4 % gesehen, so ist die US-Wirtschaft in Q1/2025 tatsächlich um 0,3 % geschrumpft und die Gesamtjahreserwartung im Konsens inzwischen auf ca. 1,4 % gefallen. Damit würde Amerika seinen kompletten bisherigen Wachstumsvorsprung gegenüber der EU verlieren. Auch die Gewinnerwartungen für die Unternehmen fielen in derselben Zeit von ca. 13 % auf ca. 8 %. Damit wird Corporate America derzeit über seinem langjährigen Mittel bewertet und erscheint auch im internationalen Vergleich relativ teuer.
Märkte überraschen positiv
Ohnehin zeigen sich die Aktienmärkte angesichts der wirtschaftlichen und (geo)politischen Situation derzeit bemerkenswert stabil. Immerhin verharren sowohl das Verbrauchervertrauen als auch die Geschäftsklimaindizes auf niedrigem Niveau. Die Konjunktur- und Gewinnerwartungen werden hüben wie drüben herunterkorrigiert. Die Bilanz-Pressekonferenzen im gerade ablaufenden Quartal erwähnten so oft wie nie zuvor den Begriff "Unsicherheit" (85 %). Gemäß dem globalem Wirtschafts-Unsicherheits-Index⁵ ist die Verunsicherung derzeit extrem hoch und wurde in der Gesamthistorie nur während des Auftretens von Corona überboten. Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat in diesem Index nicht halb so hohe Wellen geschlagen. Auch hier spiegelt sich zweifellos das von Superlativen und Widersprüchen durchzogene verbale Dauerfeuer aus dem Weißen Haus wider. Trotzdem fallen negative Marktreaktionen vergleichsweise schwach aus und die jeweilige Gegenreaktion überkompensiert die vorangegangenen Verluste. So erholten sich die Märkte innerhalb von nur einem Monat vom L-Day und notierten im Mai bereits um ca. 7 % (S&P 500) bzw. ca. 3 % (EURO STOXX 50) über dem Ausgangsniveau. Auf den "12-Tage-Krieg" reagierten die Börsen trotz 20 %igen Anstiegs des Ölpreises kaum; die Gegenbewegung hält derzeit an und vermischt sich mit der Erleichterung über Anzeichen von Einigungen im Zollstreit.
Ein Erklärungsansatz für die starke Positionierung der Märkte nach dem 90-Tage-Moratorium waren die seinerzeit hereinkommenden sehr guten Nachrichten aus den Unternehmen. Parallel dazu kommunizierte die US-Notenbank mögliche Zinssenkungen noch in diesem Jahr. In Europa stützten sinkende Zinsen während des gesamten ersten Halbjahres (zuletzt am 5. Juni), was es, neben den Einigungen über kräftige Infrastruktur- und Verteidigungsinvestitionen, den europäischen Märkten ermöglichte, sich weiter von den USA abzuheben. Nicht zuletzt: Irgendwann begannen die Marktteilnehmer, sich an die präsidiale Geräuschkulisse zu gewöhnen und sie nicht mehr so wichtig zu nehmen. Seitdem steht das Akronym TACO im Raum: "Trump Always Chickens Out" – am Ende kneift Trump jedes Mal.
⁵ Es gibt nichts, was es nicht gibt. Also existiert auch ein Unsicherheitsindex, den die US-Notenbank seit 1985 veröffentlicht, sowohl für die USA als auch global. Indikatoren für Unsicherheit werden in Medienberichterstattung, laufender Steuergesetzgebung und volks- bzw. betriebswirtschaftlichen Prognoseabweichungen der Forschungsinstitute identifiziert.
Zuversicht ...
Gerade die letzten Junitage brachten noch einige Aspekte für eine grundsätzlich zuversichtlichere Haltung an den Weltbörsen zutage:
• Zwischen China und den USA konkretisiert sich ein Handelsabkommen. Der Warenverkehr in beide Richtungen könnte sich verregelmäßigen, beidseitige Ausfuhrbeschränkungen aufgehoben werden und die Störung der Lieferketten enden. Dementsprechend entstünde Aufwärtspotential bei den Gewinnschätzungen für Unternehmen und Abwärtspotential für die Inflationserwartungen, was wiederum die Phantasie bald fallender Zinsen beflügelte.
• Auch zwischen Europa und den USA verdichten sich die Anzeichen für ein Abkommen. Die Einigung erfolgt womöglich auf deutlich ermäßigtem Niveau gegenüber heute und auch die Sonderzölle könnten wieder fallen. Der Investitionsschub durch Infrastruktur- und Verteidigungsausgaben ist Fakt und wird einige Jahre lang wirken. Das internationale Interesse an Europa wächst, denn es sticht aktuell durch politische Konstanz und den klar kommunizierten Willen zur Verantwortungsübernahme hervor.
Die gesamte globale Wirtschaft könnte davon profitieren, wenn aufgrund einer anhaltenden Beruhigung des Israel-Iran-Konflikts die Ölpreise längere Zeit tief bleiben. Verebbt auch der Handelsstreit der USA mit dem Rest der Welt, so dürften sich die Zölle auf einem durchschnittlich tieferen Niveau als derzeit einpendeln, der globale Warenverkehr sich erholen und die internationalen Lieferketten könnten sich wieder schließen. Schließlich hielt der Gipfel des nordatlantischen Verteidigungsbündnisses in Den Haag die Kernbotschaft bereit: Die Nato bleibt die Nato, womit eine zwischenzeitlich aufgekommene geopolitische Unsicherheit ihre Grundlage verliert. Unverändert treibend wirkt weiterhin die durch künstliche Intelligenz ausgelöste Dynamik für digitale Prozesse. Auch Quanten-Computing wächst aus dem Entwicklungsstadium hinaus und könnte einen zusätzlichen Booster für die KI darstellen.
... versus Vorsicht
Wie so oft haben die Märkte einige der angesprochenen positiven Erwartungen aber auch möglicherweise schon vorweggenommen, insbesondere eine vernünftige Einigung in Handelsfragen. Der extreme April-Pessimismus scheint einem frühsommerlichen Optimismus gewichen, der seinerseits vielleicht ausblendet, dass verbleibende Risiken im Falle ihres Eintreffens durchaus Wirkung entfalten könnten:
• Diese "wundervolle" Steuergesetzgebung, die schon so knapp wie nur möglich durch Kongress und Senat gekommen ist, könnte im letzten Verfahrensgang scheitern (der Ausgang wird nach Drucklegung bekannt). Es wäre eine gute Nachricht für die Verfassung der Staatsfinanzen, für den Dollar und die Zinsen. Aber es wäre de facto auch eine gewaltige Steuererhöhung und damit eine Bremse für die Wirtschaft.
• Solange keine Tinte unter den Verträgen ist, können die Handelskonflikte jederzeit wieder aufkochen. China könnte versucht sein, das Machtspiel um seltene Erden wieder aufzunehmen und die gesamte westliche Welt dadurch zu dominieren.
• Die Kriege im Nahen Osten sind zu einem Schwelbrand heruntergelöscht, könnten aber schnell wieder aufflammen. Abgesehen von der Vergrößerung menschlichen Leids könnte
durch die Verteuerung von Öl und dessen mangelnde Verfügbarkeit auch die globale Wirtschaft Schaden nehmen. Unabhängig davon könnten radikal eingestellte Gruppen sich angesichts der erfahrenen Demütigungen zu Vergeltungsakten entschließen; 9/11 könnte sich in irgendeiner westlichen Weltmetropole erneut ereignen.
• Der Ukrainekonflikt bleibt weiter ohne Lösung. Trump könnte tatsächlich die Geduld verlieren und "weiterziehen". Zöge sich Amerika damit vollständig aus
der Ukraine-Unterstützung zurück, so wäre diese Lücke durch Europa schlicht und ergreifend nicht auffüllbar; die Ukraine wäre an Russland verloren.
Es ist also wie so oft: Für und Wider geben sich die Hand, für Skeptiker wie für Optimisten gibt es Futter im Recherche-Korb. Allerdings scheinen die derzeit begünstigenden Aspekte sichtbar und real. Sie sind zum Teil noch "jung" und haben sich möglicherweise noch nicht vollständig in den Marktpreisen niedergeschlagen. Darum sollten sie Gewicht erhalten und sich in der Anlagestruktur widerspiegeln. Dagegen kann den aufgezeigten Risiken eine Wahrscheinlichkeit naturgemäß derzeit kaum beigemessen werden. Sie sind aber schlüssig und könnten jedes für sich deutliche Spuren ziehen. Darum sollten die Investitionsquoten ausgewogen bleiben und die Chance ermöglichen, aus bisher nicht bekannten Gründen rückläufige Kurse zum Einstieg nutzen zu können. Bei Neuinvestitionen würden wir Europa und Asien den Vorzug vor den USA geben.
Gold bleibt als Direktinvestment oder im Rahmen einer Fondsstrategie unverzichtbar. Sein unaufhaltsamer Aufstieg ist begründbar, hat Ursachen im globalen Hang zu immer höherer Verschuldung und konkret im rasanten Verfall des Vertrauens in den US-Dollar. Extrapoliert man etwa die historische Parallelität zwischen den amerikanischen Staatsschulden und dem Goldpreis zehn Jahre voraus, so könnte das gelbe Metall dann mehr als 6.000 USD/Unze Wert sein.
Dieser Aspekt dürfte auch Kryptowährungen, zu deren Sinn- und Werthaltigkeit unterschiedliche Auffassungen diskutiert werden, eine weiter wachsende Aufmerksamkeit verleihen. Wir kennen Trumps Traum von Amerika als Kryptohauptstadt. Mit seiner Politik ebnet er den Weg.
Bielefeld, 1. Juli 2025
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