Dünne Luft

Das zurückliegende Halbjahr war an wirtschafts- und börsenrelevanten Nachrichten nicht arm. Es verband sich mit belastenden Themen wie Delta, Ukraine, Lieferketten, Inflation, Klimagipfel, Zinsen, Omikron. Jedoch waren die wirtschaftlichen Aufholkräfte extrem stark, ebenso die Gewinnentwicklung der Unternehmen. Dies bildete ein stabiles Fundament für ein insgesamt gutes Börsenjahr.

Unverändert hat die Pandemie die Welt fest im Griff. Sie dominiert die Nachrichtenlage, das gesellschaftliche Zusammenleben, die Realwirtschaft sowie unsere Perspektive auf die nähere und fernere Zukunft. Ab Juli wurde "Delta" vorherrschend – mit einem doppelt so hohen Ansteckungsfaktor und Hospitalisierungsrisiko wie der Wildtyp. Seit November beschäftigt uns die Omikron-Variante, welche sich mit Rasanz über den Erdball verbreitet. Mit den Impfstoffen stehen den Menschen seit über einem Jahr wirksame Mittel zum Schutz vor einer Ansteckung mit schwerem Verlauf zur Verfügung. Dennoch müssen die Bürger in wechselnden Intervallen gesetzliche oder vernunftgebotene Einschränkungen im täglichen Leben hinnehmen, weil immer noch zu viele Menschen nicht geimpft sind.

"Lieferkette" könnte zum Wort des Jahres werden, weil pandemiebedingte Schließungen von Fabriken und Häfen sowie begrenzte Logistikkapazitäten es derzeit kaum vermögen, das aufgestaute Handelsvolumen um die Erde zu transportieren. Der im Wiederanschwung nach 2020 ausgelöste Bedarf ließ die Preise für Energie und fossile Brennstoffe in kürzester Zeit extrem ansteigen. "Inflation", der Titel unser Perspektiven zur Sommerwende, wurde zum beherrschenden Thema an den Finanzmärkten.

Unverkennbar befindet sich die Welt im Wandel hin zu nachhaltigen Standards in allen Lebensbereichen. Dieser Wandel wird vermutlich ebenso prägend sein, wie die Ausbreitung des Internets seit dem Beginn dieses Jahrhunderts. Er begründet neue Investitions- und Beschäftigungsmöglichkeiten. Er wird die wirtschaftliche Aktivität eher befördern als bremsen. Er ist nicht umsonst zu haben, sondern erhöht die Preise von Energie, von Gütern wie auch von Dienstleistungen und befördert mittelbar auch die Inflation.

Derzeit herrscht eine komplexe Gemengelage mit ineinander verschachtelten Wirkungsketten und Kippelementen, hinter denen kein Anschluss an tradierte Verhältnisse mehr möglich sein wird. Vor uns scheint eine Landschaft aneinander gereihter Dominosteine mit Treppen, Brücken, Kaskaden, Wippen, Gegenläufen, Spiralen, Barrieren und Weichen zu liegen. "Angesichts der Pandemie, des Klimawandels und der Digitalisierung müssen wir ganz offensichtlich das gesamte System – Gesellschaft, Wirtschaft, Technologie – in seiner vollen Komplexität in den Blick nehmen. Aus den eng miteinander zusammenhängenden Wechselwirkungen ergeben sich Entwicklungen, die sich mithilfe linearer Gleichungen nicht mehr fassen lassen. Vielleicht lassen sie sich auch gar nicht abbilden", urteilt derzeit eines der größeren deutschen Research-Institute. Wenngleich diese Einschätzung jede Analyse ihrer Verantwortung enthebt, wollen wir hier dennoch aufzeigen, welche Beobachtungen und Überlegungen uns in der aktuellen Situation durch den Kopf gehen, wenn wir über die Perspektiven der Kapitalmärkte im Jahr 2022 nachdenken. Die Stichworte sind: Corona, Inflation und Zinsen, Welthandel und Lieferketten.

Das geht nicht weg

SARS-CoV-2 wird uns dauerhaft begleiten, genauso wie schon NL63, OC43, 229E und HKU1, die bisher bereits bekannten Coronaviren-Stämme. Ein Drittel aller Erkältungskrankheiten in Europa gehen seit langem schon auf diese Viren zurück. Mit der Immunisierung der Bevölkerung durch Impfung, durch Ansteckung mit anschließender Genesung oder durch Tod wird Covid-19 seine hoch pathogene Wirkung einbüßen und sich zu einer fortwährend gehäuft auftretenden Erkrankung entwickeln, die jedoch immer seltener mit schweren Verläufen einhergeht. Wie schnell sich diese Entwicklung vollzieht, hängt weiterhin vom Durchsatz der Welt(!)Bevölkerung mit Impfungen ab. In der Zwischenzeit wird es weitere Wellen und möglicherweise Gegenmaßnahmen durch gesellschaftliche Einschränkungen geben.

Die Kapitalmärkte werden dieses Thema hinter sich lassen. Denn konjunkturell ist es im politischen Westen augenscheinlich bestens bestellt. Während das Jahr 2020 durchweg von roten Zahlen geprägt war, wird in den Bilanzen 2021 tiefstes Schwarz aufgetragen. Die gesamtweltwirtschaftliche Delle des Vorjahres (-3,3 %) wird durch einen 5,7 %igen Wiederanstieg gut überkompensiert. Allerdings sind die regionalen Unterschiede sehr deutlich: In China stieg das BIP wieder um ca. 8 %, wie schon in den Jahren vor Corona. Auch Amerika und Südeuropa wachsen sehr kräftig (zwischen 4,5 % und 6,7 %). Währenddessen hat die Dynamik in Deutschland wie auch in Japan zur zweiten Jahreshälfte 2021 wieder deutlich nachgelassen, weshalb über das Gesamtjahr lediglich Raten von 2,7 % bzw. 1,8 % erreicht werden. Für 2022 erwarten die Volkswirte global aufgrund derzeit steigender Corona-Inzidenzen mit neuen Mutationen wieder mehr Unsicherheit und Zurückhaltung, weshalb insgesamt etwas abgeschwächte Rahmendaten gesehen werden. Die genannten Nachzügler sollten jedoch aufholen und so könnte weltwirtschaftlich eine Rate von aus "normalen" Zeiten bekannten etwa 4,5 % erreicht werden. Unterfüttert wird diese Erwartung durch steigende Beschäftigungsraten und wieder optimistischere Stimmungsindikatoren. Allein das Abarbeiten des durch die Lieferstörungen aufgestauten und nun rekordhohen Auftragsbestands dürfte einen nicht zu unterschätzenden Effekt auf die Konjunktur auslösen. Die konjunkturellen Überraschungen könnten insofern auf der positiven Seite liegen, sobald die notwendigen Vorprodukte wieder in hinreichender Menge verfügbar sind.

Insgesamt erwarten wir, dass sowohl die Pandemie als auch die konjunkturellen Rahmendaten die Börsen im begonnenen Jahr kaum negativ beeinflussen werden. Größeres Augenmerk sollte unseres Erachtens auf die Entwicklung der Zinsen gelegt werden. Sie sind eng mit der Entwicklung des allgemeinen Preisniveaus verknüpft, womit das Thema Inflation auch diesen Bericht dominieren wird.

 

Inflation wird bestimmend

Im November haben die Teuerungsraten 6,9 % in den USA und 5,2 % in der Eurozone betragen, im Jahresmittel werden in den USA ca. 4,4 % und in Euroland ca. 2,6 % erreicht. Üblicherweise ist Inflation entweder kosteninduziert, indem Rohstoffpreise, Transportkosten und/oder Löhne steigen und auf die Verkaufspreise umgelegt werden. Oder sie ist nachfrageinduziert und dadurch gekennzeichnet, dass bei Güterknappheit oder Verteilungsengpässen die Verbraucher bereit und fähig sind, höhere Preise zu zahlen und dadurch das Preisniveau steigt. Dieses Mal kommt die Inflation von beiden Seiten:

  • Anbieterseitige Preistreiber:
    Chinas Null-Toleranz-Politik im Hinblick auf die Pandemie hat zu wochenlangen Schließungen in den weltgrößten Containerhäfen Shenzhen-Yantian und Ningbo geführt. Rohstoffe und Vorprodukte gelangten nicht zu den Weiterverarbeitungsstätten insbesondere in den USA und Europa. So wurden wegen Mangels an Halbleitern weltweit 2,9 Mio. Autos weniger gebaut als im ohnehin schon schwachen Jahr 2020; eine Verkehrswende qua Mangelwirtschaft. Wo noch Material erhältlich war, wurde dies teuer erkauft und vornehmlich in Fahrzeugen der teuren Oberklassen verbaut, wo die Margen auskömmlich sind. Experten gehen davon aus, dass der globale Rückstau erst im späteren Verlauf des Jahres 2022 abgearbeitet sein wird.

    Der wirtschaftliche Rebound nach den ersten beiden Corona-Wellen war stärker als von vielen Volkswirtschaftlern vermutet und führte zu einem erheblichen Mehrbedarf an Energierohstoffen. Dieser musste aus dezimierten Kapazitäten gedeckt werden. Zur Erinnerung: Die OPEC hatte im Zuge der Pandemie eine Rekordkürzung um 10 Mio. Barrel pro Tag beschlossen. Erst im Juli 2021 wurde mit Erhöhungen um 400.000 Barrel/Tag gegengesteuert, im Dezember um weitere 400.000 Barrel/Tag. In Summe aber kann die Nachfrage derzeit vom Angebot nicht gedeckt werden, Staaten müssen ihre Reserven anzapfen. Fossile Rohstoffe sind deutlich teurer als vor Jahresfrist, dies aber insbesondere vor dem Hintergrund einer extremen Preisbaisse von Frühjahr bis Herbst letzten Jahres.

  • Nachfrageseitige Preistreiber:
    Die im Rahmen der Pandemiebekämpfung administrativ verfügten Einschränkungen und die lange Zeit anhaltende perspektivische Unsicherheit haben bis in das Jahr 2021 hinein eine Konsumzurückhaltung einmaligen Ausmaßes verursacht. Viele Produkte des außeralltäglichen Bedarfs wurden nicht gekauft, Reisen nicht angetreten, Immobilienprojekte verschoben. Parallel dazu hat sich Vermögen angehäuft. In den USA geschah dies selbst in den unteren Einkommensschichten, weil z.B. arbeitslos Gewordene im Schnitt mehr Unterstützung erhielten, als sie vorher netto verdient hatten. Die Erwerbsbevölkerung wiederum verfügt dank leicht verhandelter Lohn- und Gehaltssteigerungen derzeit über mehr Einkommen. Dies betrifft in Europa eher höher qualifizierte Fachkräfte, in Amerika wiederum in besonderer Weise gering Qualifizierte, die am Arbeitsmarkt derzeit besonders knapp sind.
    Überdurchschnittliche Ersparnisse und höhere Einkommen begünstigen aktuell die Bereitschaft, höheren Preisvorstellungen der Anbieter an der Ladentheke, beim Friseur, im Reisebüro oder bei der Haussanierung zuzustimmen. So scheint derzeit jeglicher Spielraum gegeben zu sein, um gestiegene Kosten mittels Preiserhöhung an die Verbraucher zu überwälzen.

Mit der Analyse der Herkunft von Inflation verbindet sich der Versuch einer Einschätzung der künftigen Entwicklung. Dies gilt nicht allein für die absolute Preissteigerungsrate, sondern vielmehr wird der Anstiegs- oder Abflachungswinkel wesentlich beeinflussen, wie die Notenbanken in den USA und in Europa die Geldpolitik steuern. Die Volkswirte sind darüber völlig uneins, die seriösesten der Zunft bieten die gesamte Bandbreite von Beschwichtigungsszenarien bis zu Katastrophenphantasien.

Einflüsse auf die Preise

  • Einige Volkswirte diskutieren die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale, weil es in Europa an qualifizierten und in den USA an einfachen Arbeitskräften fehle. Die Demografie sorge darüber hinaus am Beispiel Deutschland bis 2035 für einen Schwund von 5 Mio. Arbeitskräften, bis 2050 seien es 10 Mio. weniger Erwerbskräfte. Andere Experten verweisen auf den digitalen Wandel auch in der Arbeitswelt, durch den es in vielen Einsatzgebieten für den Faktor Arbeit einfach nichts mehr zu tun geben wird. Und so wäre durchaus denkbar, dass beide Strömungen sich ideal kompensieren können.
  • Darüber hinaus wird die angebliche Entkoppelungstendenz der Wirtschaft besprochen. Die Betriebe strebten eine wieder höhere Fertigungstiefe an, um Abhängigkeiten zu reduzieren und Lieferketten zu verkürzen. Während die jahrzehntelange Globalisierungstendenz für permanenten Wettbewerb, Produktivitätsfortschritt und Preisdruckt gesorgt hätte, könnte die nun einzuschlagende Gegenrichtung zu Produktivitätsverlusten führen und die Preise steigen lassen.
    Dagegen gibt die ETH Zürich in einer Studie zu bedenken, das sogenannte Reshoring zahle sich meist nicht aus, denn die notwendige Rückgewinnung von Kompetenzen und die höheren Kosten für Löhne und Betriebsstätten würden schnell die Vorteile aufzehren. Erwartbar sei aus der Lernkurve während der Pandemie eher, dass Produzenten sich um Lieferanten-diversifikation – möglicherweise über verschiedene Regionen hinweg – bemühen. Dies wiederum würde eher einen nochmaligen Schub in Richtung Globalisierung auslösen.
  • Relativ neu ist die Diskussion um die Kosten der globalen Dekarbonisierung der Wirtschaft. Der Energiewandel steht als Kostentreiber außer Frage. Das Forschungszentrum Jülich hat z.B. für Deutschland bis zum Jahr 2050 Mehrkosten i.H.v. jährlich 1,8 bis max. 2,9 % des BIP geschätzt, denen allerdings Einsparungen für nicht erforderliche Energieimporte i.H.v. ca. 2 % des BIP gegenüberstünden. Die Energiewende sei mit nennenswerten Transformationskosten verbunden, die allerdings plan- und überschaubar seien. Diese Kosten entstehen im Übrigen nicht über Nacht und werden die Inflation der nächsten 3-5 Jahre kaum berühren. Darüber hinaus ist kaum seriös vorhersehbar, wie umfangreich sich die Länder tatsächlich engagieren werden.
  • Einen aktuell wirkenden Kostentreiber stellt die Logistik dar, denn es fehlt derzeit an Transportkapazitäten. Allerdings ist die Frachtbranche ein Paradebeispiel für den so genannten Schweinezyklus: Im Zuge der Finanzkrise stürzten die Frachtraten ins Bodenlose und erholten sich längere Zeit nicht. Reeder stornierten Bestellungen, der Auftragsbestand bei den Werften ging um mehr als die Hälfte zurück. Der Ausbruch der Pandemie schien den Reedern Recht zu geben, noch im April 2020 analysierte der renommierte dänische Marktforscher "Sea Intelligence", dass die Frachtraten im ähnlichen Ausmaß einbrechen würden wie während der Finanzkrise. Verschätzt, denn das Gegenteil trat ein. Der Welthandel hat sich schneller wiederbelebt, als die Reeder vermutet hatten. Erst im laufenden Jahr – wiederum sehr spät – reagierte die Branche mit Neubestellungen von Schiffen, dafür aber richtig: Von den lt. Branchenverband BIMCO im August 2021 vorliegenden 619 Bestellungen über Containerschiffe sind 381 erst in 2021 beauftragt worden.

Basiseffekte relativieren die Inflationsdaten

Ebenso wie die Pendelausschläge im Investitionszyklus der Reeder sind bei der Diskussion von Inflation zahlreiche Basiseffekte zu berücksichtigen, aufgrund derer die Frage gestellt werden darf, ob sich die Entwicklung zwangsläufig ungebremst fortsetzen wird.

  • So haben sich die Rohstoffpreise ggü. 2020 mehr als verdoppelt. Allerdings lagen sie auch von März bis November 2020 etwa um die Hälfte unter Vorjahresniveau. Weitet man die Perspektive auf Jahresdurchschnittspreise, so wird deutlich, dass diese 2021 lediglich um 20 % über denen des Jahres 2019 lagen, während im Vergleich zu 2018 überhaupt keine Ölpreisinflation stattgefunden hat.

  • Auch das Phänomen der unterbrochenen Lieferketten dürfte auslaufen. Lisandra Flach, Leiterin des ifo-Zentrums für Außenwirtschaft, geht davon aus, dass sich die heftigen globalen Pendelbewegungen aus anfänglich nahezu vollständigem Produktionsstopp und anschließend maximalem Aufholschub im Verlauf des Jahres 2022 wieder ausgleichen. Sie geht außerdem davon aus, dass die Verfügbarkeit von Transportkapazitäten sich mit endemischer werdendem Verlauf von Corona verbessern wird, mittelfristig ohnehin wegen der neu beauftragten Schiffsbauten.

Energiepreise, Frachtraten und Lieferketten stehen in nicht unmittelbarer Dependenz zueinander, münden aber dennoch gemeinsam in ein und dieselbe Variable: Inflation. In der Augenscheinlichkeit der Wirkung dieses Impulses mag derzeit verkannt werden, dass sein Nachlassen auch die Inflation unmittelbar wieder zurückschwingen ließe. Dies ist das Argument der Notenbanken, die unisono mit Maßnahmen zur Eindämmung der Preisentwicklung hadern, weil sie vermeiden möchten, mit zu frühen und/oder zu kraftvollen Interventionen eine sich ohnehin wieder verlangsamende Wirtschaft zusätzlich zu bremsen.

Notenbanken mit Durchblick

Wenn FED und EZB mit ihrer Zurückhaltung die derzeit angespannte Situation durchblicken und dieser "Durchblick" einigermaßen mit der zukünftigen Realität in Einklang steht, könnte auch das begonnene Jahr ein gutes Börsenjahr werden. Zwar wird die US-Notenbank mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Zinsen erhöhen, dabei aber wohl nicht über das von den Terminmärkten bereits eingepreiste Niveau hinausgehen. Die Märkte reagierten auf die dementsprechende "forward guidance" Mitte Dezember außerordentlich erleichtert und die Renditen der 10- und 30-jährigen Anleihen liegen derzeit mehr als einen halben Prozentpunkt unter dem Niveau vom Frühjahr 2021.

In Europa bleiben von der Notenbank initiierte Zinsanhebungen noch einige Zeit obsolet, was insofern in Ordnung geht, als im Vergleich zu den USA geringere Konjunkturhilfen und trägere Tarifverhandlungen die Inflation auf einem tieferen Niveau halten. Zwar ist davon auszugehen, dass hüben wie drüben die Zinsen das derzeit extrem niedrige Plateau zumindest kurzzeitig verlassen werden. Jedoch sollte sich diese Bewegung sanft, vorausschaubar und begrenzt vollziehen. Investitionen in Anleihen werden darum aller Voraussicht nach weiterhin unattraktiv gegenüber dem Aktienmarkt bleiben, zumal bei Anleihen beide Seiten der Medaille nicht schön anzusehen sind: Zum einen ist die Realverzinsung nach dem Anstieg des Inflationssockels noch weiter in den Minus-Bereich gerutscht. Zum anderen drohen bei steigendem Kapitalmarktzins reziprok Kursverluste auf bereits getätigte Investitionen, umso heftiger, je entfernter der Rückzahlungstermin liegt

Dünne Luft für Aktien

Für Aktieninvestoren wird die Luft auf dem Gipfel der Bewertungsexpansion der letzten Jahre nun dünner. Nachdem die Kurse in 2020 der Realität vorausgeeilt sind, haben in 2021 Konjunktur und Gewinne nachgezogen. Nun wäre der Übergang in eine Konsolidierungsphase erwartbar: Die Gewinne der Unternehmen steigen allenfalls durchschnittlich und die Bewertungen engen sich ein, weil der Rückenwind fallender Zinsen schwächer weht. Zudem haben sich die Margen der Unternehmen in 2021 auf Nachkriegs-Rekordwerte ausgedehnt, das dürfte in 2022 nicht gesteigert werden können. Nun ist dünne Luft zwar nicht keine Luft, aber weitere Höhenmeter werden nicht mehr so leicht genommen und auf glatterem Untergrund ist auch schon mal der Rückfall in eine Sicherungsleine zu erwarten. Zudem bieten die Prognosen der Analysten scheinbar nur wenig Orientierung. Die einen sehen weiter wachsende Inflation, steigende Zinsen, rezessive Tendenzen, kurz Gefahr. Die anderen relativieren die Inflationserwartungen (über 2 %, aber nicht über 3,5 %) und übergewichten die positiven Konjunkturimpulse (Lageraufbau, Konsumneigung, Beschäftigung, Gewinnentwicklung). Aus zurückliegenden Beobachtungen lässt sich ableiten, dass eine heterogene Stimmungslage einen guten Nährboden für die Aktienmärkte bildet. Sollen Aktien allerdings ihre hohe Bewertung weiterhin rechtfertigen, müssen die Gewinne der Unternehmen weiter zulegen. Angesichts der immer noch günstigen konjunkturellen Aussichten erscheint dies möglich, wenn auch in abgeflachtem Steigungswinkel. Ein statistischer Rückblick zeigt im Übrigen zweierlei: Inflation ist nicht per se schlecht für die Aktienmärkte. Seit 1972 können wir acht Inflationsschübe beobachten; nur in zwei dieser Phasen sind Aktien gefallen, in den übrigen gestiegen. Zweite Beobachtung: Erfolgen die Zinsanhebungen langsam (in den USA nicht häufiger als bei jeder 2. Sitzung des FED), dann "kommt der Aktienmarkt mit" und Irritationen bleiben weitgehend aus.

Wanderung auf dem Grat

Diesem Ausblick steht allerdings umgekehrt die Möglichkeit gegenüber, dass Konjunktur und Inflation überschießen, weswegen die Notenbank(en) sich gezwungen sähen, die Zinsen radikal zu erhöhen. Das könnte eine Bewertungskompression bei Aktien auslösen (Aktien erscheinen gegenüber Anleihen zu teuer), zumal wenn die Marktteilnehmer befürchten, dass durch die Geldpolitik die Konjunktur abgewürgt wird. Würde diese Befürchtung Realität, könnte für Aktien akute Atemnot entstehen: Denn wenn bei steigendem Zinsniveau zugleich die Inflation wieder sinkt, erhält die Realverzinsung Schub aus doppelter Richtung und Anleihen gewinnen schlagartig an Attraktivität gegenüber Aktien; ein Bärenmarktszenario.

Augenscheinlich stehen wir vor dem Übergang in eine neue Phase mit messbarer, wenn auch wohl nicht überbordender Inflation. Die Masse der volkswirtschaftlichen Theorien geht davon aus, dass ein Grundsatz an Inflation für die Wirtschaft gesund ist. Sie sei für den Systemerhalt geradezu notwendig, um die Investitionsneigung zu erhalten, dem Geld einen Preis (Zins) zu geben und Fehlallokationen zu vermeiden. Allerdings zeigen die Schwankungen im zweiten Halbjahr des zurückliegenden Jahres auch, dass mit diesem Übergang die immer wieder aufkeimende Sorge der Investoren vor einer zu straffen Geldpolitik verbunden sein wird. Die eine oder andere Schrecksekunde dürfte die nächste Zeit für uns bereithalten und besonders diejenigen beunruhigen, die Aktien weniger aus der Grundüberzeugung eines Investors als vielmehr in Ermangelung rentabler Alternativen halten. Wir empfehlen, diese Schwankungen auszuhalten, denn solange die Realverzinsung negativ ist, sind sie der Preis für langfristigen realen Wertzuwachs.

Es besteht die Möglichkeit, sich der Übergangsphase anzupassen, indem das Portfolio eher in Unternehmen gesteuert wird, die anhaltend in der Lage sind, ihre Preise bzw. Mengen so zu variieren, dass die Gewinne mindestens mit der Inflation steigen. Dadurch bliebe der Realwert der Unternehmen erhalten. Der Fokus wäre auf Titel zu legen, die über tolle Produkte, eine starke Wettbewerbsposition und hohe Profitabilität verfügen. Sie sind besser in der Lage, mit steigenden Zinsen/Kosten umzugehen, als Unternehmen mit geringen Margen und hoher Verschuldung. In regionaler Hinsicht erscheint das Potential in Europa derzeit höher als bspw. in den USA. Profiteure in Zeiten steigender Inflation sind häufig auch Anlagen in Edelmetallen, vornehmlich Gold.

Die dargestellten Überlegungen sind eingebettet in Risikoszenarien, latent vorhanden, jedoch nicht im Vordergrund. So ist derzeit nicht absehbar, welche Eskalationsstufen der Streit mit Russland um die geopolitische Einbettung der Ukraine nehmen kann. Wir gehen davon aus, dass alle Beteiligten an friedlichen Lösungen interessiert sind. Auch die Handelsbeziehungen USA/China bleiben mit einer Patina belegt. Was die pandemische Lage betrifft, so hat Omikron sein Gutes möglicherweise darin, dass es die Impfbereitschaft deutlich erhöht hat. Auf der anderen Seite können andere – und ggf. gefährlichere – Mutationen alle bisher diskutierten Einschätzungen über den Haufen werfen. Nicht zuletzt bleiben die bekannten systemischen Risiken bestehen, wie zum Beispiel die immer weiter erhöhte internationale Verschuldung. Noch nie haben sich Schulden so leicht angefühlt, weil sie nahezu nichts kosten. Noch nie waren die Schulden so hoch. Viele in verantwortlicher Stellung Handelnde haben ewig fallende und letztlich tiefe Zinsen fast als Gesetzmäßigkeit erlebt und es wäre zumindest interessant, welche neuen Wege gefunden werden, um ggf. überraschend stark steigenden Zinsen zu begegnen.

Wir ordnen den Risiken derzeit nur geringere Eintrittswahrscheinlichkeiten zu, haben sie aber gleichwohl deutlich vor Augen. Vielmehr gehen wir von einem geordneten Übergang in eine von messbarer Inflation begleitete Phase mit weiter niedrigen Zinsen aus, währenddessen sich die aus der Verschuldung resultierenden Risiken vermindern, weil Schulden sich bei Inflation leichter und schneller abbauen. Solange der Übergang kontrolliert erfolgt und die Preissteigerungen moderat bleiben, sollten sich Schwankungen in einem individuell aushaltbaren Rahmen bewegen und weiterhin durch realen Werterhalt oder -zuwachs entlohnt werden.

Bielefeld, den 4. Januar 2022

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